Raus aus dem Wochenbett, rein in die Bewegung!

© Sabrina Muscharski

Mehr als die Hälfte der Frauen zwischen 30 und 75 Jahren haben schon einmal beim Lachen oder Niesen Urin verloren. Harninkontinenz, auch Blasenschwäche genannt, ist ein in der Gesellschaft weit verbreitetes Krankheitsbild. Etwa 50 Prozent der Frauen leiden darunter, viele von ihnen sind erst zwischen 30 und 39 Jahre alt.

Ein trainierter Beckenboden ist für Frauen die beste Möglichkeit, einer Harninkontinenz vorzubeugen. Aber es wird zu wenig über die Verbreitung von Blasenschwäche in der Gesellschaft gesprochen und die Bedeutung von Beckenbodentraining für die Gesundheit wird einfach noch unterschätzt.

Um mehr über den Beckenboden zu erfahren, habe ich gemeinsam mit einer Kommilitonin das Beckenbodenzentrum St. Joseph-Stift besucht. Dort haben wir mit Dr. Sabine Gaiser und Dr. Kerstin Volkmer, der ärztlichen Leitung des Beckenbodenzentrums, sowie mit Annika Krüger-Tiefenbach gesprochen, die dort als Physiotherapeutin mit Spezialisierung auf Beckenbodentherapie tätig ist.

Im zweiten Teil unserer zweiteiligen Beckenboden-Serie erfahrt ihr mehr über Rolle und Aufgabe des Beckenbodens nach der Geburt und Rückbildung (Hier lest ihr Teil 1 „Wie Beckenbodentraining uns die Chance gibt, unsere stabile Mitte zu finden“)

Wie verändert sich der Beckenboden nach einer Geburt?

Dr. Sabine Gaiser:

„Wir haben häufig Frauen, die kommen sechs Wochen bis drei Monate nach der Geburt und sind verzweifelt, weil der Beckenboden durchhängt und sie starke Senkungsbeschwerden haben. Während der Stillzeit und insgesamt dem ersten Jahr nach der Entbindung gibt es noch gute Chancen, dass sich der Beckenboden wieder kräftigt – mit Unterstützung von Training vielleicht, je nachdem, wie ausgeprägt das ist.

Wenn die Stillzeit beendet ist, reguliert sich der hormonelle Zyklus. Dann unterstützt die Hormonproduktion auch die Funktion des Beckenbodens wieder. Und die Rückbildungsvorgänge sind eigentlich erst nach einem Jahr abgeschlossen und viele Beschwerden relativieren sich bis dahin.

Das heißt nicht unbedingt, dass der Beckenboden wieder so ist wie vor der Geburt – das müssen auch alle Frauen wissen, diese Veränderungen sind zum Teil physiologisch – aber die Beschwerden und das massive Senkungsgefühl sind weg.“

Ab wann nach der Entbindung ist es möglich, den Beckenboden wieder zu stärken?

Dr. Kerstin Volkmer:

„Frauen sollten die natürlichen Rückbildungsprozesse erst mal abwarten. Im Wochenbett, die ersten sechs Wochen nach der Geburt, bildet sich die Gebärmutter zurück. Es gibt Übungen im Wochenbett, die viele Hebammen empfehlen, und die nur im Liegen gemacht werden, das sind aber meistens nur Wahrnehmungsübungen. Und richtig trainieren soll man erst nach abgeschlossenem Wochenbett, also frühestens nach sechs Wochen.

Unsere Rückbildungskurse finden meistens erst ab drei Monaten nach der Geburt statt. Das ist auch eher praktisch gedacht wegen der Kinderbetreuung. Es heißt ja Wochenbett, weil die Frauen früher wirklich liegen sollten. Ich bemerke, dass viele Frauen heutzutage denken, sie müssen gleich wieder fit und auf den Beinen sein. Aber das muss so gar nicht sein. Nein, am Anfang erst mal liegen und sich ums Kind kümmern und aneinander gewöhnen und nicht so viel durch die Gegend laufen und nicht so viel Besuch, nicht so viel Miss Perfect sein.

Ich halte Rückbildungsgymnastik ohne Kinder für viel sinnvoller, denn wie viele Frauen sind wirklich konzentriert, wenn das Baby dabei ist? Mein Rat: Du musst nicht früh damit anfangen, aber wenn du es machst, solltest du mit vollen Sinnen bei der Sache sein.“

Dr. Sabine Gaiser:

„Ich würde behaupten, manche dieser Rückbildungskurse sind aus verschiedenen Gründen gar nicht effektiv. Vielleicht ist die Frau noch gar nicht so weit, die Kinder sind dabei, oder der Kurs ist nicht ausreichend auf den Beckenboden ausgerichtet. Oft ist es eine gute Entscheidung, nach einem Rückbildungskurs gezielt noch einen Beckenbodenkurs zu machen.“

Was sollte bei der Rückbildung und beim Beckenbodentraining nach der Entbindung beachtet werden?

Annika Krüger-Tiefenbach:

„Es ist immer gut, etwas für den Beckenboden zu tun. Je früher du weißt, worauf du achten musst, desto besser. Daher ist es sinnvoll, sich schon vor der Entbindung zu informieren, wie man das Baby am besten trägt oder wie man auf den noch geschwächten Beckenboden achtet.

Das seitliche Tragen von z.B. einer Babyschale ist für die Rumpfstabilität und für den geschwächten Beckenboden zum Beispiel ungünstig. Es ist besser, die Babyschale vor der Mitte zu tragen. Das sind alles sehr belastende Tätigkeiten. Es geht auch darum, wie man den Druck auf den Beckenboden im Alltag vermeiden kann. Das schützt viel mehr, als wenn man viel trainiert.

Es geht eher um Schonung und Aufpassen und ganz konzentriert das tun, was man da tut. Alles, was deinen Rücken belastet, belastet auch deinen Beckenboden – wenn du dir das als rote Überschrift drüberschreibst, dann kannst du dich ganz gut schützen.“

Was ist, wenn Beckenbodentraining nicht mehr hilft?

Dr. Sabine Gaiser:

„Ein Beispiel – Eine Frau hat zwei Kinder geboren und berichtet ihrer Frauenärztin: „Wenn ich zum Sportkurs gehe und hüpfe, dann verliere ich Urin. Sonst im Alltag nicht, ich muss auch nicht häufiger auf die Toilette. Aber ich mag gar keinen Sport mehr machen“. In aller Regel ist es dann so, dass die Frau Beckenbodentraining macht und das auch hilft, aber dass sie sagt: „Wenn ich so richtig stark hüpfe oder lange jogge, geht immer noch was verloren“.

Das sind Frauen, die sich sehr gut helfen können, indem sie einen Spezialtampon, der wie ein Menstruationstampon in die Vagina eingeführt wird, zum Sport benutzen. Der Tampon stützt dann von der Vagina aus die Harnröhre, sodass bei Druck auf die Blase kein Urin verloren geht.

Das heißt im Alltag brauchen sie nichts, aber wenn sie zum Sport gehen setzen sie vorher diesen Tampon ein und können wieder hüpfen so viel sie mögen. Und damit können gerade die jungen Frauen gut zurechtkommen, brauchen keine Operation und haben ein Hilfsmittel, um sportlichen Aktivitäten wieder sorgenfrei nachgehen zu können.“

Die wichtigste Botschaft…

Annika Krüger-Tiefenbach:

„Wichtig ist einfach, sich sportlich zu bewegen, im Gleichgewicht zu sein und Beckenbodentraining zu integrieren, egal ob im passenden Kurs im Sportverein oder in einer Beckenbodenschule. Auch nach drei Kindern und in den Wechseljahren sollten Frauen aktiv werden. Denn Vieles kann man selbst machen. Beckenbodentraining ist unsere Chance, die stabile Mitte zu finden und da irgendwie unsere Kraft zu stabilisieren – diese Chance sollte man sich nicht entgehen lassen!“


Sabrina Muscharski hat ihre Praxissemester beim familiennetz bremen absolviert und im Rahmen ihres Public Health-Studiums an der Universität Bremen gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Sarah Bauder eine Plakatserie zu dem Thema „Blasenschwäche und Beckenbodentraining mit Liebeskugeln“ erstellt. Dafür hat sie viel recherchiert und im März 2022 dieses Interview geführt.

Teil 1/2: Wie Beckenbodentraining uns die Chance gibt, unsere stabile Mitte zu finden
Teil 2/2: Raus aus dem Wochenbett, rein in die Bewegung!