Rollenwechsel extrem. Eltern werden – mit einem behinderten Kind

© Nicole Wrede

Als ich Mutter wurde, war ich ziemlich alt: Mein vierzigster Geburtstag ist wegen meines wirklich prallen Zwillingsbauches ins Wasser gefallen. Vielleicht gab es Kerzen, Kuchen und ein paar Freunde – mehr sicher nicht. Schon die Tatsache, dass ich nach vierzig Jahren Nur-für-mich-verantwortlich-Sein direkt doppelte Mutter wurde, wäre sicher eine Herausforderung gewesen.

Aber es kam noch dicker: Mein Zwillingssohn ist behindert. Meine Zwillingstochter ist ein so genanntes Regelkind. Sie kamen durch einen Not-Kaiserschnitt zur Welt. Beide mussten auf die Intensiv-Station. Unser Sohn, in meinem Blog nenne ich ihn den Hibbelmors, musste künstlich ernährt werden.

Hilfe frühzeitig einfordern

Als wir nach zehn Tagen aus der Klinik entlassen wurden, hatten wir mit Ärzt*innen über die Anomalien unseres Sohnes gesprochen und mit der Krankenhaus-Psychologin darüber, wie es uns damit geht. Die Humangenetikerin hatte den Hibbelmors untersucht und uns erklärt, dass er sehr wahrscheinlich einen Gendefekt habe. Der Sozialdienst war zu der Zeit leider nicht besetzt.

Also sind wir nur mit dem Vermerk „… Wiedervorstellung beim Kinderarzt“ nach Hause gefahren. Mein Liebster und ich sind nicht auf die Idee gekommen, mehr zu verlangen. Aber das hätten wir tun sollen.

Wir haben alles selbst in die Hand genommen, und es auch Schritt für Schritt hinbekommen. Wir wären jedoch deutlich besser gefahren, wenn wir direkt gewusst hätten, dass es beispielsweise das Sozialpädiatrische Institut (SPI), auch Kinderzentrum genannt, in Bremen gibt.  Hier waren wir dann auch mit dem Hibbelmors und hatten dort mehrere Fachleute, die uns weiterhelfen konnten.

Ein Zentrum für tausend Fragen

Viele Themen, mit denen wir überfordert waren, konnten wir hier besprechen. Die entsprechenden Therapien wurden direkt im Kinderzentrum an der Friedrich-Karl-Straße 55 durchgeführt oder wir wurden an die Spezialist*innen in der Prof.-Hess-Kinderklinik verwiesen.

Es ging z.B. um …

  • das Trinken, das der Hibbelmors nicht hinbekommen hat
  • die Ernährung per Nasensonde (und später per PEG-Sonde)
  • die instabilen Gelenke des Hibbelmors
  • die ausbleibenden Entwicklungsschritte
  • sein häufiges Erbrechen, das uns die ersten Jahre stets begleitet hat
  • seine schlechten Augen
  • die Belastung von uns Eltern
  • u.v.m.

Später brauchten wir das SPZ nicht mehr. Wir haben uns selbst Ärzt*innen und Therapeut*innen gesucht. Als erste Adresse aber ist ein solches Zentrum, das Erfahrung mit beeinträchtigten Kindern und deren Eltern hat, Gold wert.

Von anderen profitieren: Erfahrungsberichte helfen

Auch online habe ich in der ersten Zeit als pflegende Mutter versucht, mich über alles Mögliche zu informieren. Vor allem hat mir hier ein Forum geholfen, in dem sich pflegende Eltern zu sehr unterschiedlichen Themen austauschen: Rehakids – Das Forum für besondere Kinder. Hier findet man von zig Threads bis zu gebrauchter Spezialkleidung eigentlich alles rund um pflegende Elternschaft.

Damals habe ich auch händeringend nach persönlichen Erfahrungen von pflegenden Müttern gesucht. Mit einem behinderten Kind ist man oft anders als die anderen Mütter und ich habe mich damit manches Mal allein und nicht glücklich gefühlt.

Es ist ein Hineinwachsen in die Rolle und ich habe Rollenvorbilder gesucht. Genau deshalb veröffentliche ich mittlerweile auch selbst Geschichten aus unserem inklusiven Familienalltag. Ältere Beiträge gibt es im Blog Hibbelmors – und die ganz alltägliche Inklusion, neuere Einblicke findet ihr bei Instagram-Kanal hibbelmors_inklusive.

Nicht allein: Austausch pflegen

Absolut empfehlen kann ich auch den Sonntagsbrunch der Lebenshilfe. Ein paarmal im Jahr treffen sich hier Eltern von behinderten Kindern, um Erfahrungen und Tipps auszutauschen. Übrigens hatte auch das SPZ uns mit zwei anderen pflegenden Eltern in Kontakt gebracht. Das haben wir dankbar angenommen. Wir treffen uns auch heute noch, wenn auch nicht oft.

So wird das Leben mit einem behinderten Kind immer eine Herausforderung sein, aber es wird auch normal. Schneller normal wird es, wenn ihr euch Hilfe holt und zwischendurch mal Entlastung organisiert. Was ich unbedingt noch sagen will: Wenn ich zurückblicke, habe ich vieles durch den Hibbelmors gelernt. Zum Beispiel, wie wichtig es ist, im Jetzt und Hier zu sein.

Und wie schön Kuscheln ist. Und, was bedingungslose Liebe heißt. Und, wie schön es ist, sich ausgiebig zu freuen – auch über Alltägliches. Glaubt mir; alle, die in dieser Situation sind, werden nicht nur Verunsicherung erleben, sondern auch Phasen, die zufrieden, stolz und glücklich machen.

Links und Orte, die weiterhelfen


Nicole Wrede ist selbstständige Texterin, Moderatorin und Coach aus Bremen. Sie ist Mutter zweier sehr unterschiedlicher Zwillinge und bloggt über ihren Alltag, das inklusive Familienleben mit Pflegegrad 4. Ihre Mission: das Miteinander in einer anders normalen Familie nicht verstecken, sondern es zum Gesprächsthema machen.